Peter Conradis Rede zum "16. Plädoyer für den Südflügel" am Montag 31.10.2011 um 17.30 Uhr am Hbf-Turm
Zuerst will ich heute ein grosses D A N K E zu den Architektinnen und Architekten sagen, die hier 15 engagierte und fachkundige Plädoyers für die Erhaltung des Südflügels unseres Stuttgarter Hauptbahnhofs veranstaltet haben. Das waren wichtige Beiträge für die öffentliche Diskussion, und mit diesen Plädoyers haben Sie sich nicht nur um Stuttgart, sondern auch um das Ansehen unseres Berufsstands verdient gemacht. Unsere Berufsvertretung, die Architektenkammer Baden-Württemberg, hat leider eine grosse Chance verpasst: Statt sich einseitig für "Stuttgart 21" zu erklären, hätte sie in diesem Streit frühzeitig vermitteln und so wie Heiner Geissler – leider viel zu spät und umstritten –zur Versachlichung der Diskussion und zur Klärung der Fakten beitragen müssen.
Wir, die Volksbewegung gegen "Stuttgart 21" und für den "Kopfbahnhof 21", verdanken den Juristen, Ingenieuren, Unternehmern, Künstlern und vielen Anderen gute Ideen, überzeugende Argumente, interessante Veranstaltungen und einfallsreiche Aktionen. Die "Architekt/Innen für K 21" haben in Bildern gezeigt und damit anschaulich gemacht, was mit Worten allein nicht zu vermitteln ist: die Defizite und Schwächen des Tunnelbahnhofs "Stuttgart 21", und die Stärken und zukünftigen Möglichkeiten unseres Kopfbahnhofs.
Einige Professoren und Journalisten behaupten, der Protest in Stuttgart würde von egoistischen, fortschrittsfeindlichen, missgelaunten alten "Wutbürgern" getragen, die angeblich eine Wertminderung ihrer Grundstücke und Häuser befürchten und deshalb "gegen alles" protestieren. Dabei wird unterschlagen, dass wir ja nicht nur gegen "Stuttgart 21" sind, sondern selbst konstruktive Vorschläge für den Bahnknoten Stuttgart und für die Sanierung und Verbesserung des bestehenden Kopfbahnhofs vorlegen. Diese bösartigen Hetzereien haben wir durch unsere ernsthaften Alternativvorschläge und durch unseren friedlichen, fröhlichen, kreativen Protest widerlegt.
Nun gibt es eine Pause bei den Plädoyers, denn wir werden uns auf die landesweite Kampagne "JA zum Ausstieg aus Stuttgart 21" konzentrieren. Wir wollen bei der Volksabstimmung in Stuttgart ein besonders deutliches JA erreichen, und dazu müssen wir jetzt nicht nur demonstrieren – wer zu unseren Demonstrationen kommt, ist ja in aller Regel gegen S 21 und für K 21 – vielmehr müssen wir unsere Nachbarn, unsere Freunde, unsere Kollegen, alle die nicht hier sind, für das JA zum Ausstieg überzeugen. Dazu gehört auch, dass unser Prozess in der Stadt sichtbar wird, durch die Anstecker, durch die Aufkleber, durch Plakate gegen S 21 und für das JA zum Ausstieg.
Hier in Stuttgart sind unsere Argumente zum Erhalt des Bonatzbahnhofs und des Mittleren Schlossgartens und zur Sicherung der Mineralquellen auch weiterhin wichtig, ebenso wie die Alternativentwürfe der Architekten und Ingenieure für den Erhalt und die Verbesserung des Hauptbahnhofs und seiner Umgebung.
Im Land und auf dem Land interessieren sich die Menschen allerdings weniger für den Bonatzbahnhof, weniger für unser Mineralwasser und weniger für unsere Anlagen. Deshalb müssen wir uns auf zwei Kernargumente konzentrieren: 1. Die Betriebstauglichkeit und 2. die Kosten von S 21 und K 21:
1.
"Stuttgart 21" taugt nichts. Der vorhandene 17-gleisige Kopfbahnhof ist weitaus leistungsfähiger als der geplante 8-gleisige Tunnelbahnhof. 49 Züge in der Hauptverkehrsstunde zwischen 7.00 und 8.00 Uhr behauptet die Bahn in ihrem Stresstest, und das zu miesen Bedingungen mit kurzen Haltezeiten und vielen Doppelzügen auf einem Gleis. Wir halten dagegen: der bestehende Kopfbahnhof schafft 56 Züge, und wenn er saniert und reformiert wird, über 70 Züge pro Stunde, und wir wollen doch angesichts der Klimakrise, dass mehr, nicht weniger Menschen mit der Bahn fahren, also brauchen wir mehr Züge, breitere Bahnsteige, mehr Gleise.
Die Fahrzeitverkürzungen, die für "Stuttgart 21" genannt werden, entstehen überwiegend durch die Neubaustrecke. Inzwischen wurde aus einer SMA-Untersuchung vom November 2010 bekannt – die die damalige Verkehrsministerin Gönner der Öffentlichkeit verschwiegen hat, – dass S 21 für viele regionale Verbindungen keine Fahrzeitverkürzungen bringt und den S-Bahn-Verkehr beeinträchtigt.
Wichtig ist: S 21 ist ein technisch und ökologisch riskantes Grossprojekt, das nur funktioniert, wenn alle Einzelabschnitte fertig gebaut sind, auch die NBS Wendlingen-Ulm – sonst enden die ICE-Züge auf den Filderkrautäckern bei Echterdingen. K 21 dagegen ist ein kleinteiliges Projekt, das abschnittsweise gebaut werden kann, und bei dem jeder einzelne Teilabschnitt fahrbar ist und Verbesserungen für die Bahnkunden bringt.
2.
Jahrelang hat die Bahn die Kosten für S 21 herunter geschönt, und damit die Landesregierung, den Landtag, die Öffentlichkeit und uns alle getäuscht. Das angeblich am besten geplante und gerechnete Projekt wird nicht 4,5 Mrd Euro, sondern weit mehr, nämlich 6 bis 8 Mrd Euro kosten, und das ohne die NBS Wendlingen-Ulm. Das alles für einen Tunnelbahnhof mit engen Bahnsteigen, mit Sicherheitsmängeln, vor allem für Alte, für Kinder und für Behinderte. Dazu kommen die lange Bauzeit und die planungsrechtlichen, die geologischen und technischen Risiken.
Die Bahnvertreter im Landtag, denn viele Landtagsabgeordnete, auch der Landtagsvizepräsident vertreten die Bahn, nicht das Volk – bei Rechtsanwälten heisst das "Parteiverrat" und ist strafbar – verbreiten die Drohungen der Bahn mit angeblichen Schadenersatzansprüchen von 1,5 Mrd Euro beim Ausstieg aus S 21. Hier wird einmal mehr frech gelogen, denn da hat sie die Planungskosten für die Neubaustrecke hineingerechnet und die Kosten, die sie der Stadt Stuttgart für die von der Stadt gekauften Gleisflächen zurückerstatten muss, nämlich 459 Mio Euro, die die Bahn 2001 von der Stadt als Kaufpreis zinslos erhielt, obwohl diese Grundstücke bis heute gar nicht verfügbar sind. Die Bahn hat mit diesem Geld jahrelang Zinsen kassiert, deshalb muss sie beim Ausstieg aus S 21 Schadenersatz an die Stadt Stuttgart bezahlen, nicht umgekehrt.
Das Geld für S 21 fehlt an anderen Stellen im Land bei weit wichtigeren Bahnprojekten, zum Beispiel beim Ausbau der Rheintalstrecke für den Nord-Süd-Güterverkehr.
Schließlich: Die hohen Kosten für S 21 würden höhere Trassen- und Stationsgebühren verursachen, das Bahnfahren würde damit teurer und wir, die Fahrgäste müssten höhere Fahrpreise bezahlen.
Die Kernfrage ist:
Warum sollen wir unseren leistungsstarken und erweiterungsfähigen Kopfbahnhof, der einen Taktfahrplan erlaubt, – nach Aussagen der Verbraucherverbände der pünktlichste Grossstadtbahnhof in Deutschland – durch einen unsicheren, fahrgastunfreundlichen, knapp bemessenen, nicht erweiterungsfähigen Tiefbahnhof, in dem kein Taktfahrplan möglich ist, ersetzen?
Wir werden weiter die Sachargumente für den Ausstieg aus S 21 vortragen. Die Befürworter in der Wirtschaft und in der Politik sind damit nicht mehr erreichbar, aber wir können und wir werden viele Menschen im Land und in Stuttgart mit unseren sachlichen Argumenten überzeugen.
Wir sind eine breite Volksbewegung und wir werden weiter einfallsreich, fröhlich und friedlich demonstrieren und argumentieren. Keine Gewalt - dabei muss es bleiben. Wenn einige unter uns Gewalt provozieren wollen, dann rufen wir "Keine Gewalt", fallen ihnen in den Arm und sorgen für Frieden. Wir sollten auch die Pro-S21-Politiker bei ihren Auftritten nicht niederbrüllen, so wie am letzten Mittwoch Nils Schmid auf dem Stuttgarter Marktplatz – das fand ich beschämend – sondern sie ausreden lassen und dann laut auslachen.
Wir erwarten von der Landesregierung, dass sie sich nicht von der Deutschen Bahn AG hinhalten lässt, sondern entschieden die strittigen Punkte klärt – zur betrieblichen Leistungsfähigkeit, zu den ungeklärten Planungs- und Rechtsfragen und natürlich zu den Kosten: oder soll das Volk vor der Volksabstimmung genau so belogen werden wie bisher Parlament und Regierung?
Einige sagen uns, es geht doch n u r um einen Bahnhof, Ihr habt ja Einiges erreicht, und jetzt gebt endlich Ruhe. Wir sagen: Nein, es geht nicht nur um einen Bahnhof, es geht darum, ob sich Wirtschaft, Verbände, Banken, Medien und einige Politiker mit einem Mega-Projekt gegen sachlich fundierte Einwände und Kritik, zum Teil gegen Recht und Gesetz durchsetzen können, es geht darum ob Recht und Gesetz auch für die Mächtigen gelten, ob die parlamentarische Demokratie funktioniert und es geht darum, wer die Macht in diesem Staat hat. Deshalb ist unser Protest wichtig und deshalb schauen viele Menschen, nicht nur in Deutschland auf Baden-Württemberg und auf Stuttgart, weil sie erwarten, dass sich hier eine Bewegung von unten gegen die Politik von oben durchsetzt, weil sie erwarten, dass wir - o b e n b l e i b e n.
Der neue Montagskreis
Der Neue Montagskreis knüpft an die Tradition des Stuttgarter Montagskreises an, der in den 1960er- und 1970er-Jahren aktuelle politische Themen kontrovers diskutierte. Er ist unabhängig und offen für alle Interessierte, die sich links von der Mitte verstehen ("Links sein heisst heute die Weigerung, die Frage nach Gerechtigkeit einfach dem Markt zu überlassen" Erhard Eppler).
Veranstalter des Neuen Montagskreises:
Peter Conradi Petra Bewer Reiner Graner
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