Offener Brief
an Ministerpräsident Winfried Kretschmann
21.12.2011
Sehr geehrter Herr Kretschmann,
am 10. November dieses Jahres hatte die Landtagsfraktion Bündnis 90/die Grünen die Architektinnen für K21 als Expertinnengruppe zum Thema "Bahnhof geht auch anders" ins Theaterhaus eingeladen.
Wir hatten – neben weiteren Experten wie dem Minister für Verkehr und Infrastruktur, der Vorsitzenden des BUND, des KCW, der lngenieure22, der Stuttgarter Netz-AG und dem Planungsbüro V.-R. – die Gelegenheit, unsere Forderungen und Ideen zu den folgenden Themen zu erläutern:
- Erhalt der Gesamtanlage des besonderen Kulturdenkmals Kopfbahnhof von Paul Bonatz, seine bauhistorische Bedeutung in allen seinen Teilen, seine funktionale Qualität, seine hohe Leistungsfähigkeit und seines markanten Turms als weithin sichtbares und Identität stiftendes Stadtzeichen.
- Sanierung des Bauwerks mit zeitgemäßen Nutzungskonzepten und einer innovativen Überdachung der in Stand gesetzten Gleisanlagen, die auch künftigen Anforderungen der Reisenden in besonderer Weise gerecht werden.
- Erweiterung des Schlossgarten mit einer direkten Anbindung an die City und die Verbesserung des Stadtklimas
- Bedarfsgerechter Städtebau, durch den ohne Vermarktungsdruck günstigerer Wohnraum für Familien, Wohnen im Alter, in übersichtlichen Hausgemeinschaften angeboten werden kann.
Die von den lngenieuren22 – durch die unschlagbare Leistungsfähigkeit und Erweiterbarkeit – ergänzten Vorteile des bestehenden Kopfbahnhofs haben sich durch die Volksabstimmung am 27.11.11 ebenso wenig verschlechtert – wie die bekannten Nachteile des Tiefbahnhofs sieh verbessert haben.
Als Planende und Bauschaffende erfüllt uns mit großer Sorge, wie ein Großprojekt dies er Dimension durchgewinkt und durchgezogen werden soll, ohne die unverzichtbaren grundsätzlichen Regeln des Bauens zu beachten.
Für uns Architektinnen und Architekten ist es selbstverständlich, dass ein Bauvorhaben erst begonnen werden kann
nach eindeutiger Klärung der Grundstücksverhältnisse + Bodenbeschaffenheit
nach gerichtlich er Abweisung etwaiger bauhinderlich er Klagen + Einsprüche
nach durchgängiger Genehmigungssicherheit in allen Teilabschnitten,
nach gründlicher technischer Planung bis ins Detail
nach Abstimmung mit allen am Bau beteiligten Sonderfachleuten und von der Maßnahme Betroffenen
nach Aufstellung und Fortschreibung einer differenzierten, alle Unwägbarkeiten erfassenden Kostenberechnung + der Wirtschaftlichkeit auch im späteren Betrieb.
Bei den Kosten und betrieblichen Folgekosten muss selbstverständlich vorab geklärt sein, ob der Bauherr in der Lage und/ oder gewillt ist, sie in der hochgerechneten Dimension – zuzüglich einer entsprechenden Summe für Unvorhergesehenes – zu tragen.
Angebotene Festpreise sind keineswegs eine Garantie für Kosteneinhaltung eines Projekts.
Abweichungen von der Ausschreibung und erst recht unvorhersehbare örtliche Schwierigkeiten berechtigen die Firmen zu Nachträgen.
Da wir persönlich für die Erstellung des Gesamtwerkes haften, wird kein Architekt, keine Architektin ein
Bauvorhaben beginnen, ohne dass alle o.g. Randbedingungen eindeutig geklärt sind, wir würden als grob fahrlässig handelnd gerichtlich belangt und für entstehende Schäden + Regressansprüche in Haftung genommen.
Im Falle von S21 scheinen diese Grundregeln für das Bauen sämtlichst außer Kraft gesetzt zu sein:
Grundstück: Es ist ungeklärt, ob die Gleisanlagen des Kopfbahnhofs abgebaut und das Gelände zur Immobiliennutzung überbaut werden darf. Wahrscheinlich muss ein Teil der Gleise bestehen bleiben.
Wer haftet dafür, wenn die "schöne neue Stadt" nicht verwirklicht werden kann??
Die Bodenbeschaffenheit unter dem geplanten Tiefbahnhoftrog ist heikel, es gibt keine Untersuchungen zur Gründung des Bahnhofturmes, der – wenn er wie vermutet auf Eichenpfählen stünde – durch das Abpumpen der Baugrube kippgefährdet wäre. Wer ist verantwortlich dafür, wenn der geringere Trogdruck die Mineralwässer hochsteigen lässt oder der Bahnhofsturm kippt??
Klagen + Einsprüche: Es sind unzählige Klagen + Einsprüche von Hauseigentümern und sonstigen Betroffenen anhängig. Wer entschädigt die Eigentümer von durch Untertunnelung gefährdeten Häusern??
Genehmigung: Weder der Abstell- und Wartungsbahnhof in Untertürkheim, noch die Entnahme der doppelten Wassermenge über die Grundwassermanagement-Anlage sind genehmigt. Für die gesamten Anlagen auf den Fildern ist das Genehmigungsverfahren noch nicht einmal eingeleitet.
Was geschieht mit der angefangenen Tiefbahnhofruine in Stuttgart, wenn zum Schutz der Quellen nicht mehr Wasser abgepumpt werden darf oder die Anbindung und Weiterführung auf den Fildern versagt wird??
Ausführunsplanung: Die durch die Schlichtung veranlassten Umplanungen z.B. bezüglich Barrierefreiheit, Rettung im Brandfall, Erreichen einer besten Betriebsqualität, Ausweichmöglichkeiten bei Betriebsstörungen im Bahn- und S-Bahnbereich, Umpflanzung von Großbäumen usw. sind nicht erkennbar.
Kosten: Alle Beteiligten wissen und die Bahn sagt es nach der Volksabstimmung auch unverhohlen, dass Mehrkosten nicht auszuschließen sind, da Mehrleistungen und Mehrmassen nicht erfasst wären.
Der "Zielwert" für Vergaben von Bauleistungen liegt laut internen, vertraulich gekennzeichneten Unterlagen der Bahn um 240 Mill. € über Plan, außerdem wurden weitere "Risiken mit konkreter Indikation" in Höhe von 200 Mill. € gegenüber dem Aufsichtsrat benannt, damit wäre der Kostendeckel bereits gesprengt, einen Risikopuffer für Unvorhergesehenes gibt es nicht mehr.
Wir nehmen Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, daher beim Wort Ihrer auf der o.g. Veranstaltung geäußerten Aussage, dass Sie unabhängig vom Ausgang der VA vor Baufortsetzung von der Bahn eine schriftliche Zusage fordern, dass sie alle etwaig auftretenden Mehrkosten beim Projekt S21 übernimmt, nachdem außer dem Land auch die Stadt, der Bund und die Region die Beteiligung an Mehrkosten abgelehnt haben. Wörtlich haben Sie gesagt: "Ich werde als Ministerpräsident darauf achten, dass ich keine unnötigen Risiken in Milliardenhöhe für dieses Land eingehe... ich werde mich nicht sehenden Auges in eine Situation bringen lassen, in der nachher die Kosten steigen - es ist nicht geklärt, wer sie bezahlt und dann habe ich mitten in Stuttgart, mitten im Land eine der größten Baustellen Europas und niemand weiß, wie sie fortgeführt wird ...niemand kann mir zumuten, dass ich mich in eine solche Situation begebe, in der durch die normative Kraft des Faktischen eine Situation entsteht, in der man zuschießen muss, obgleich man es gar nicht will."
Nun hat die Bahn angekündigt, dass sie gleich im Neuen Jahr, trotz gerichtlicher Einstellung des Weiterbaus am Grundwassermanagement und trotz der Auflage zur Einbindung des BUND, den Südflügel abreißen und die "erforderlichen Baumfällmaßnahmen" durchziehen wird.
Als Fachleute für das Bauen stellen wir deshalb an Sie die dringende Bitte:
- Lassen Sie nicht zu, dass unwiederbringliche Teile des Kulturdenkmals Bonatzbau zum jetzigen Zeitpunkt ohne Grund vorzeitig abgerissen werden, nachdem es durch die Verschiebung der Bauzeiten über die Auflagen des Verwaltungsgerichtshofes keinen Termindruck gibt und eine wichtige Voraussetzung für den Bau des Tunneltrogs, nämlich die Erstellung des Technikgebäudes am Nordflügel nebst Nesenbachdüker seit 15 Monaten noch nicht erfolgt ist.
- Lassen Sie die größte Baustelle Europas nicht beginnen, ehe alle o.a. zweifelhaften Fragen gründlich geklärt sind und nehmen Sie die Bahn in Haftung für entstehende Schäden.
Das "Baurecht der Bahn" kann und darf nicht gegen alle gültigen Vorschriften des Bauens und unter Hinnahme von offensichtlichen Rechtsverstößen mit Polizeigewalt durchgesetzt werden. - Klären Sie bitte vor dem ersten Baggerbiss am Südflügel und an der Eisenbahndirektion, wer die allen bekannten und noch weiter steigenden Mehrkosten für S21 verbindlich übernimmt.
Wir wünschen Ihnen sehr geehrter Herr Ministerpräsident und Ihrer Familie ein frohes, besinnliches
Weihnachtsfest und genügend Zeit, um für das Land die richtigen Entscheidungen für das nächste Jahr
zu treffen.
Mit besten Grüßen
Architektinnen für K21
Vertreten durch:
Angelika Asseburg
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Odile Laufner |
Kurt Kühfu. Freier Architekt |
Jochen Siegel |