Offener Brief: Stuttgart 21, hier: Hauptbahnhof Stuttgart
Der Vorstand des Verbandes Deutscher Kunsthistoriker e.V. hat am 31. März 2010 den nachfolgenden Offenen Brief bezüglich des Projektes Stuttgart 21 und hierbei insbesondere des Denkmalcharakters des Stuttgarter Hauptbahnhofs an zahlreiche Entscheidungsträger versandt.
[Anrede],
in den öffentlichen Diskussionen über die Sinnfälligkeit und den volkswirtschaftlichen Nutzen des umstrittenen Projekts Stuttgart 21 hat der Denkmalcharakter des Stuttgarter Hauptbahnhofs bislang nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens sind die Einwände der Fachbehörde, des Landesamts für Denkmalpflege Baden-Württemberg im Regierungspräsidium Stuttgart, schon im Vorfeld zu Ungunsten des Denkmals abgewogen worden. In der Folge ist derzeit der weitgehende Abbruch des überregional bedeutsamen Denkmals geplant, ungeachtet der damit verbundenen Verluste städtebaulicher Qualitäten und der negativen Folgen für die umgebende Denkmallandschaft.
Der Verband Deutscher Kunsthistoriker sieht sich daher aufgerufen, vor den drohenden Verlusten zu warnen und sehr nachdrücklich für den Erhalt der Denkmäler einzutreten.
Bekanntlich handelt es sich bei dem Bahnhofsareal um ein hochrangiges Kulturdenkmal nach § 12 DSchG, das in das Denkmalbuch des Landes Baden-Württemberg eingetragen ist. Die Eintragung umfasst nicht nur das Empfangsgebäude selbst, sondern die Gesamtanlage mit Güterbahnhof, Betriebsbahnhof, Tunnelbauwerk und Gleisanlagen. Und dies mit gutem Grund, gehören doch sowohl die konzeptionellen Vorgaben einer dreizonigen Gleisanlage mit der Trennung von Regional- und Fernverkehr (und der sog. Gäubahn in der Mitte) als auch die komplexen Brücken- und Tunnelbauwerke zur Vermeidung von Überkreuzungen der Ein- und Ausfahrtsgleise zu den Voraussetzungen für die herausragende technikgeschichtliche Bedeutung der Anlage.
In besonderer Weise ist es jedoch das dreiflügelige Empfangsgebäude von Paul Bonatz (1877-1956), das die Stuttgarter Mitte prägt und als unbestrittenes Hauptwerk seines Schöpfers internationale Architekturgeschichte geschrieben hat. Der 1914 begonnene, nach kriegsbedingter Unterbrechung 1922 eingeweihte, aber erst 1928 fertiggestellte Bau ist nicht nur von der zeitgenössischen Architekturkritik als eine der wegweisendsten Errungenschaften gefeiert und neben die Bauten eines Peter Behrens gestellt worden, er hat bis ins Rheinland hinein Nachfolgebauten geprägt (z.B. Hauptbahnhöfe von Düsseldorf und Oberhausen) und damit auf gesamtdeutscher Ebene Maßstäbe gesetzt. Die klare Kubatur, die Strenge der Gliederungen und die mit der Verwendung von Quaderbossen aus Muschelkalkstein charakteristische Materialwahl gehen mit dem Prinzip der Zweckdienlichkeit eine auch heute noch bezwingende Verbindung ein, die es verdient, als eine der herausragenden architektonischen Leistungen des frühen 20. Jahrhunderts bewahrt zu werden.
Demgegenüber sehen die aktuellen Planungen die völlige Preisgabe der als „Sachgesamtheit“ geschützten Gleisanlagen und Tunnelbauwerke, den Abbruch der Seitenflügel und den Teilabbruch sowie entstellende Eingriffe im Bereich des zentralen Kopfbaus vor. Ein Wahrzeichen Stuttgarts wird auf diese Weise in seiner Zeugnishaftigkeit und seiner städtebaulichen Einbindung massiv beschädigt und in seinem Denkmalcharakter sehr erheblich reduziert.
Der Verband Deutscher Kunsthistoriker verwahrt sich in aller Form gegen die unwiederbringlichen Verluste und die darin zum Ausdruck kommende Missachtung von Denkmalschutzgesetzen. Für eine Besinnung auf die kaum zu überschätzenden Denkmalwerte der Gesamtanlage ist es noch nicht zu spät. Ich darf Sie bitten, in diesem Sinn die bisherigen Entscheidungen erneut auf den Prüfstand zu stellen.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Georg Satzinger
Erster Vorsitzender
Antwort
- Wolfgang Drexler MdL in seiner Funktion als Sprecher für das Bahnprojekt im Auftrag des Ministerpräsidenten Mappus, 28.05.2010
- Replik des Ersten Vorsitzenden des Verbandes, 04.06.2010
Verweise
- SWR, 29.04.2010
- Bild (Regional/Stuttgart), 29.04.2010
- Schwäbische Zeitung, 29.04.2010
- Rhein-Neckar-Fernsehen, 29.04.2010
- Südkurier, 29.04.2010
- Heilbronner Stimme, 29.04.2010
- ka-news, 29.04.2010
- Badische Zeitung, 30.04.2010
- Südwest Presse, 30.04.2010
- Stuttgarter Nachrichten, 30.04.2010
Quelle: www.kunsthistoriker.org/1155.html
Kunsthistoriker, Architekturhistoriker und Denkmalpfleger protestieren gegen Urteil des Landgerichts Stuttgart
Unzulängliche Beweisaufnahme ermöglicht Teilabriss des Stuttgarter Hauptbahnhofs
Der 1914 bis 1928 erbaute Stuttgarter Hauptbahnhof von Paul Bonatz soll wegen eines umstrittenen Entwurfs für eine neue unterirdische Bahnhofsanlage im Rahmen des Projekts "Stuttgart 21" teilweise abge-rissen werden. Dagegen protestieren seit Jahren zahllose namhafte Kunst-, Kultur- und Architekturinstitu-tionen sowie Denkmalpfleger und weitere Fachleute aus der ganzen Welt (www.hauptbahnhof-stuttgart.de).
Der Enkel des Architekten hatte eine Urheberrechtsklage gegen die Deutsche Bahn AG angestrengt, um den Abriss zu verhindern und eine Umplanung zu erreichen, die auch bei Verwirklichung des Bahnprojekts technisch möglich ist. Das Landgericht Stuttgart hat am 20. Mai 2010 die Urheberrechtsklage abgewiesen (LG Stuttgart 17 O 42/10).
Die Unterzeichner protestieren gegen das Urteil, weil es ohne Hinzuziehung von Sachverständigen gefällt wurde und in der Urteilsbegründung folglich schwerwiegende Bewertungsfehler unterlaufen sind. In diesem weitreichenden Präzedenzfall hätte das Gericht sich nicht nur auf die Klageschrift, auf Presseartikel oder publikumsorientierte Publikationen verlassen dürfen. Die Epoche und die Stilphase des Stuttgarter Hauptbahnhofs sind noch so unzulänglich verortet, dass sich das Gericht keine Bewertung auf dieser Basis hätte erlauben dürfen, ohne konkreten Fragestellungen, einzelne Bauteile betreffend, an einen sach-verständigen Fachgutachter zu stellen.
Wir verwahren uns daher nachdrücklich gegen die explizite Feststellung der Richter, sich die Bewertung des Baukunstwerks Stuttgarter Hauptbahnhof und seiner einzelnen Bestandteile selbst zuzutrauen. Voll-kommen unakzeptabel und mit fatalen Konsequenzen ist die Ansicht des Gerichts, dass es zur Beurteilung nur auf "den ästhetischen Eindruck", ankomme, "den das Werk nach dem Durchschnittsurteil des für Kunst empfänglichen und mit Kunstdingen einigermaßen vertrauten Menschen vermittelt".
Obwohl das Gericht einräumt, dass das Gebäude ?in Deutschland und Europa als architektonische Meis-terleistung? anerkannt ist, dessen "komplexe Gestaltung seiner Zeit voraus war", zieht es laienhaft den unsachgemäßen Schluss, die Innenraumstruktur sei "von nur beschränkter Bedeutung", die Seitenflügel seien nur als Einfassung für die Gleisanlage gedacht gewesen und weil dieser funktionelle Bezug zur Gleisanlage verloren ginge, sei der Abriss legitim.
Es ist angesichts der anerkannten Regeln der Kunstwissenschaften skandalös und nicht hinnehmbar, dass das Gericht sich über alle Aspekte der Ikonographie, der Ikonologie und der stadtgestalterischen Zusammenhänge hinwegsetzt. Der Hauptbahnhof Stuttgart hat in Wirklichkeit über die rein funktionalen Aspekte eines Verkehrsbauwerks hinausgehende elementare Bedeutungswerte (z. B. als letztes Repräsentationsbauwerk des Königreichs Württemberg oder als prototypische Ausformulierung der Werkbundtheorien), die ebenso aus den Raumstrukturen und Seitenflügeln resultieren. Das Urteil ist daher in wesentlichen Punkten fehlerhaft begründet und kann in seiner Abwägung der widerstreitenden Interessen keinesfalls überzeugen.
Wir fordern die verantwortlichen Politiker auf, den Abbruch der Seitenflügel zu verhindern und einer alter-nativen Planung den Weg zu ebnen, die das Kulturdenkmal als Ganzes erhält. Die "Verkehrskathedralen" der Vergangenheit und die Schienenprojekte der Zukunft sind keine Gegensätze. Gelungene Beispiele in Spanien, Frankreich und England zeigen, dass die Realisierung des modernen Hochgeschwindigkeitsverkehrs unter Erhaltung der klassischen Kopfbahnhöfe möglich ist.
75 Unterzeichner im Juli 2010:
- Prof. Dr.-Ing. Winfried Nerdinger, Architekturmuseum der TU München
- Prof. Dr. Adrian von Buttlar, TU Berlin
- Prof. Dr. M. Arch. Thomas Will, Technische Universität Dresden
- Prof. Dr. Gabi Dolff-Bonekämper, TU Berlin
- Prof. Dr. Christian Freigang, JWG Universität Frankfurt am Main
- Prof. Dr. Dr. Karl Kiem, Universität Siegen
- Prof. Dipl.-Ing. Hartmut Frank, HCU Hamburg
- Prof. Dr. Matthias Schirren, TU Kaiserslautern
- Prof. Dr. Raphael Rosenberg, Universität Wien
- Prof. Dr. Wolfgang Sonne, TU Dortmund
- Prof. Dr. Rainer Graefe, Universität Innsbruck
- Prof. Dr. Klaus Tragbar, Hochschule Augsburg
- Prof. Dipl.-Ing. Theresia Gürtler-Berger, Universität Stuttgart
- Prof. Dipl.-Ing. Berthold Burkhardt, TU Braunschweig
- Prof. Dr. Uwe Lobbedey, Universität Münster
- Prof. Dr. Joachim Ganzert, Leibniz Universität Hannover
- Prof. Dr. Paul Zalewski, Europa-Kolleg Viadrina, Frankfurt/Oder
- Prof. Dr. Hiltrud Kier, Universität Bonn
- Prof. Dr. Hans-Rudolf Meier, Bauhaus-Universität Weimar
- Prof. DI Dr. Friedmund Hueber, TU Wien
- Prof. em. Dr. Cord Meckseper, Leibniz Universität Hannover
- Prof. Dr. Heinrich Dilly, Halle
- Prof. em. Dr. Klaus Nohlen, Rhein-Main-Hochschule Wiesbaden
- Prof. Dr. Beat Wyss, Karlsruhe
- Prof. Dr. Michael Hesse, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
- Prof. Dr. Herwarth Röttgen, Stuttgart
- Prof. Dr. Matthias Untermann, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
- Prof. Dr. Sergiusz Michalski, Eberhard Karls Universität Tübingen
- Prof. Dr. Wolfgang Schenkluhn, Martin-Luther-Universität Halle-Wittemberg
- Prof. Dr. Carola Jaeggi, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
- Prof. Dr. Dieter Mertens, Direktor i. R. Deutsches Archäologisches Institut, Rom
- Dr. Horst Jaritz, Montpellier, früher Direktor des Schweizerischen Instituts für Bauforschung und Alterumtskunde, Kairo
- Dipl.-Ing. Norbert Baues, Hamburgisches Architekturarchiv der Hamburgischen Architektenkammer, Hamburg
- Dr. Eva-Maria Barkhofen, Vorsitzende der Föderation deutscher Architektursammlungen
- Dr. Wolfgang Voigt, Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main
- Dr. Barbara Seifen, LWL-Amt für Denkmalpflege in Westfalen, Münster
- Dipl.-Ing. Ulrich Höhns, Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst, Schleswig
- Dr. Christiane Wolf, Archiv der Moderne, Bauhaus-Universität Weimar
- Dipl.-Ing. Gabriele Podschadli, Amt für Denkmalpflege in Westfalen, Münster
- Dr. Marc Hirschfell, Stuttgart
- Dr. Zeynep Kuban, TU Istanbul
- Dr. Michael Scheftel, Büro für Bauforschung, Lübeck
- Dr. Anke Fissabre, RWTH Aachen
- Dr. Jutta Kriewitz, Bauforschung und Denkmalpflege, Berlin
- Dr. Thomas Eissing, Universität Bamberg
- Dipl.-Ing. Alexandra Druzynski von Boetticher, TU Cottbus
- Dr. Karsten Ley, RWTH Aachen
- Dipl.-Ing. Mag. Birgit Juliane Mayer, Universität Innsbruck
- Dr. Arnd Hennemeyer, TU München
- Dr. Peter Schneider, Deutsches Archäologisches Institut, Berlin
- Dr. Ulrich Krings, Stadtkonservator i. R., Köln
- Dr. Andreas Schwarting, TU Dresden
- Dr. Günther Stanzl, Rhein-Main-Hochschule Wiesbaden
- Dr. Birte Rogacki-Thiemann, TU Berlin
- Dr. Ulrike Schubert, Frankfurt am Main
- Dr. Frank Schmitz, Büro für Baugeschichte, Berlin
- Dr. Christoph Heuter, Wuppertal
- Dr. Christoph Hölz, Archiv für Baukunst, Universität Innsbruck
- Dr. Wolf Eiermann, Stuttgart
- Rüdiger Jordan, Texte & Archiv zur Architektur, Düsseldorf
- Dr. Bert Schlichtenmaier, Stuttgart
- Dr. Hans-Dieter Nägelke, Architekturmuseum der TU Berlin
- Dr. August Bernhard Rave, Stuttgart
- Dr.-Ing. habil. Dietrich Worbs, Universität Stuttgart
- Dr. Christine Breig, Stuttgart
- Dr. Dipl.-Ing. Dietrich W. Schmidt, Universität Stuttgart
- Dr. Dina Sonntag, Stuttgart
- Dr. Corinna Höper, Stuttgart
- Dr. des. Vera Klewitz, Stuttgart
- Dipl.-Ing. Haiko Türk, BTU Cottbus
- Dr. Gudrun Escher DWB, Xanten
- Dr. Jörg Stabenow, Universität Augsburg
- Dr.-Ing. Gert Kaster, Bad Ems
- Dr. Birgitta Coers, Eberhard-Karls-Universität Tübingen
- Dr. Angela Pfotenhauer, Frankfurt a.M.
Quelle: