Der Stuttgarter Hauptbahnhof – Denkmal ohne Schutz
MATTHIAS ROSER
Nach dem Wettbewerb von 1910 erbauten Paul Bonatz (1877-1956) und sein Partner Friedrich Eugen Scholer (1874-1948) den Stuttgarter Hauptbahnhof zwischen 1914 und 1928, also in einer Zeit der gesellschaftlichen und architektonischen Neuorientierung. Durch Krieg und Nachkriegsnot bedingte lange Baupausen gaben Bonatz – er ist der eigentliche Schöpfer des Baus, Scholer lediglich sein kongenialer Partner für das Technische – wiederholt Gelegenheit, seine Planung zu überdenken. Entsprechend dem freien Geist Bonatz‘ („Ich habe mich nie einer Richtung verschrieben“) überarbeitete er seinen ursprünglich homogenen Entwurf mehrfach, sodass im Großen wie im Kleinen der erste und der zweite Bauabschnitt in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen.
Über stark asymmetrischem Grundriss bilden kubische Baumassen unterschiedlicher Dimensionen und Proportionen ein spannungsgeladenes, fragiles Gleichgewicht, das im Turm kulminiert. Die wesentlichen Bauteile stehen in engem Verhältnis zum städtebaulichen Umfeld und verankern den Bau gleichsam in der Stadt – oder wird die Stadt in ihm verankert? Da der Bahnhof außerhalb des alten Stadttors erbaut wurde, konnte Bonatz – nach erfolgreicher Teilnahme an einem Wettbewerb – den Bebauungsplan selbst gestalten. Mit dem Bahnhof und dem Zeppelinbau in der von ihm entworfenen Lautenschlagerstraße, einem markanten Signal des Neuen Bauens, ist ihm ein städtebaulich außergewöhnlich bedeutendes und überzeugendes, für das Bauen jener Jahre beispielhaftes Ensemble gelungen.
Weitere Belege für die schon früh, auch von scharfen Kritikern Bonatz' erkannte städtebaulich herausragende Leistung lassen sich mühelos und auch für Laien nachvollziehbar finden. Beginnend mit der Tatsache, dass der Baukörper der speziellen Stuttgarter Topografie mit eher bescheidener Höhenausbildung Rechnung trägt und sich nahtlos in die Nachbarbebauung einbindet, fügt sich der Gesamtbau in die alles bestimmende Hauptrichtung der Stadt von Südwest nach Nordost ein. In dieser Richtung – also in Richtung Neckartal – fließt das Grundwasser, strömt die Frischluft von den Bergen und verläuft der Verkehr. Der Schlossgartenflügel begleitet den Park und verleiht ihm eine edle Kulisse, der Turm ist weithin in der Innenstadt als Orientierung erkennbar, auch aus der Königstraße, von deren unterem Ende der Blick auf das monumentale Rundbogenfenster der Großen Schalterhalle fällt. Die Parabelbogen der kleinen Schalterhalle liegen in der Achse der Lautenschlagerstraße, die von den Stuttgartern irrigerweise »Arkaden« genannte offene Pfeilerhalle öffnet den Bau zum Arnulf-Klett-Platz hin und führt mit ihm Zwiesprache; der Nordausgang führt die Reisenden auf den Kurt-Georg-Kiesinger-Platz genannten zweiten Bahnhofsplatz, der vom jetzt zu mehr als der Hälfte abgerissenen Nordflügel und der ehemals Königlich Württembergischen Generaldirektion gesäumt wird.
Der oben nur angedeutete, spannende Entstehungsprozess lässt sich deutlich an der Architektur ablesen: Insgesamt betrachtet, steht der Bau mit einem Fuß noch im 19. Jahrhundert, mit dem anderen jedoch setzt er an, um späteren Entwicklungen wie Kubus, Flachdach, Asymmetrie vorzugreifen. Damit ist er nicht nur ein »echter Bonatz«, sondern er nimmt auch eine herausragende Stellung innerhalb der deutschen und europäischen Baugeschichte ein, und es liegt auf der Hand, dass sich sein Status als »Kulturdenkmal besonderer Bedeutung« nach § 12 Denkmalschutzgesetz von Baden-Württemberg auf seinen Gesamtumfang bezieht.
Stuttgart 21
Unter diesem Namen propagieren Techniker und Politiker seit rund 15 Jahren den Bau eines unterirdischen, um 90 Grad gedrehten Tiefbahnhofs, um Stuttgart einen Durchgangsbahnhof zu bescheren. Bei näherer Betrachtung der bahntechnischen Gegebenheiten stellt sich heraus, dass vergleichbare Leistungen mit einem modernisierten Kopfbahnhof oder mit einem räumlich getrennten ICE-Bahnhof, beispielsweise an der alten Römerstraße von Straßburg nach Augsburg in Cannstatt, also am Neckar, sehr viel preiswerter und schneller zu haben wären. Hauptmotiv für »Stuttgart 21« ist vielmehr der in München und Frankfurt bereits gescheiterte Versuch, die frei werdenden Gleisflächen den Kommunen zu verkaufen und damit gutes Geld zu verdienen, in Stuttgart immerhin rund 450 Millionen Euro.
Der Ende 2009 endgültig beschlossene Bau des Tiefbahnhofs führt zu gravierenden Eingriffen in die Bausubstanz des Bonatz-Baus, so gravierend, dass das mittlerweile aufgelöste Landesdenkmalamt (Nachfolger ist das Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart mit Sitz in Esslingen) vorsorglich die Projektpartner darauf hingewiesen hat, dass dem Bau bei deren Realisierung sein Denkmalstatus aberkannt werden muss. Die Maßnahmen im Einzelnen: Abriss der Treppenanlage in der Großen Schalterhalle, um die Reisenden auf der sogenannten Verteilerebene zu den künftigen Gleisen zu bringen, die über Rolltreppen erreichbar sind. Dieser Raum, als Empfangshalle für das Königreich Württemberg konzipiert, verliert dadurch seine Maßstäblichkeit und seine Anbindung an die Kopfbahnsteighalle auf Gleisniveau. Diese ihrerseits wird ihres Bodens beraubt, was dazu führt, dass aus den harmonischen Proportionen ein kirchenschiffartig hoher Raum wird. Am Äußeren ist der Teilabriss des Nordflügels vorgesehen und bereits weitgehend abgeschlossen. Dadurch verliert nicht nur die Fassade ihr Gleichgewicht, sondern auch der Bahnhofsplatz seinen Halt. Auf der anderen Seite soll der Schlossgartenflügel um rund 243 Meter gekürzt werden, sodass von der mit 277 Meter längsten Fassade künftig nur noch rund 34 Meter stehen bleiben. Hier wie auf der gegenüberliegenden Seite verliert der Bau damit nicht nur rund die Hälfte seiner Fassadenausdehnung, sondern vor allem verliert die oben beschriebene Komposition ihr fragiles Gleichgewicht. Übrig bleibt ein Torso. Hierzu muss man wissen, dass dem Bau eines Tiefbahnhofs beide Seitenflügel nicht im Weg stehen. Mehrere Wettbewerbsentwürfe hatten damals ihren vollständigen und teilweisen Erhalt vorgesehen. Ingenieure von Rang wie Jörg Schlaich versichern, dass ihre Unterfangung technisch machbar sei. Offensichtlich ziert sich die Deutsche Bahn AG zwar gern in Prospekten damit, dass sie historische Bahnhöfe erhält (»Bahnhöfe stehen für Tradition und Geschichte. Sie sind nicht nur Kulturgut der Bahn, sondern auch der Städte, in denen sie Reisende empfangen und verabschieden«), wenn es darauf ankommt, geht sie aber den Weg des geringsten Widerstands. Mag diese Einstellung bedauerlich sein, so ist gemessen daran das Versäumnis des Landes Baden-Württemberg und der Stadt Stuttgart, eines der bedeutendsten und berühmtesten Bauwerke auf ihrem Gebiet zu verteidigen, nicht nachvollziehbar. Im Laufe des Planfeststellungsverfahrens bzw. bei der Verfassung des Ausschreibungstextes für den Architektenwettbewerb wäre es ein Leichtes gewesen, die Erhaltung der Seitenflügel vorzusehen sowie weitere Eingriffe auf ein Minimum zu begrenzen. Dass dies nicht geschehen ist, zeugt von einer beispiellosen Ignoranz der Politik gegenüber den kulturellen Leistungen der Vergangenheit. Auch der Aufruf namhafter Mitglieder des ICOMOS 2009, man schlage den Hauptbahnhof, gemeinsam mit den Bahnhöfen Gare de l‘Est, Westbahnhof Budapest sowie Sirkeci Gar in Istanbul, als Teil des Orient-Express für die Tentativliste als Kandidat für das Welterbe vor, hat bei den verantwortlichen Politikern zu keinen Reaktionen oder höchstens zu Achselzucken geführt.
Sollte der Stuttgarter Hauptbahnhof von Paul Bonatz tatsächlich entsprechend der Planung zum Großteil abgebrochen werden, verliert er nicht nur wesentliche Teile seiner wertvollen Bausubstanz und seinen Denkmalcharakter, sondern auch seine städtebauliche Einbindung. Er wird zum sinnentleerten Torso und zur kulissenhaften Fassade.
Widerstand
Oft ist zu hören, der Widerstand gegen »Stuttgart 21« habe viel zu spät begonnen. Das trifft in dieser Verkürzung nicht zu. Anfangs, Mitte der 1990er-Jahre, äußerten sich zunächst eine Handvoll Fachleute sowie einige Laien kritisch. Die Mehrzahl der Bevölkerung betrachtete das Projekt als utopisch und nahm es daher nicht ernst. Während die Zahl der Gegner langsam zunahm, kam der Moment, wo die Deutsche Bahn AG unter ihrem damaligen Vorstandsvorsitzenden Johannes Ludewig (1997-1999) Stuttgart 21 auf Eis legte. Der aufkeimende Widerstand schlief daraufhin wieder weitgehend ein. Erst unter seinem Nachfolger Hartmut Mehdorn wurde das Projekt energisch verfolgt, sodass nach und nach die Gegnerschaft wuchs. Der Widerstand gegen das Prestigeobjekt formierte sich aus unterschiedlichen Gründen: Verkehrstechnisches, Umwelt, Geld waren die Hauptargumente. Später traten Denkmalschutzfragen auf, die zu überregionalen Schlagzeilen wie »Weltweiter Protest« führten. Die Demontage des offiziellen Denkmalschutzes in Baden-Württemberg durch die Politik war zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend vollzogen. Im Laufe des Planfeststellungsverfahrens wurde die Denkmalpflege zwar noch gehört, im Weiteren jedoch ausgebootet. Die Warnung des damaligen Landesdenkmalamts, der Bonatz-Bau verliere nach Amputation seiner Seitenflügel und weiterer schwerwiegender Eingriffe seine Denkmaleigenschaft, verhallte ungehört. Die Veröffentlichung eines kritischen Gutachtens, das den Hauptbahnhof als Sachgesamtheit zum Thema hatte, wurde untersagt. Schließlich löste der damalige Ministerpräsident Teufel das selbstständige Landesdenkmalamt auf, zerschlug es und integrierte seinen Apparat als Referate in die vier Regierungspräsidien des Landes. Die zumindest ungewöhnliche Struktur, dass im »Musterländle« ausgerechnet das Wirtschaftsministerium oberste Denkmalschutzbehörde ist – und nicht das Wissenschaftsministerium oder das Kultusministerium –, wirkte sich im Fall Stuttgart 21, hierfür bedarf es wohl keiner weiteren Worte, ausgesprochen nachteilig aus.
Frühzeitig erkannten Politiker der Grünen das Thema des Tiefbahnhofs, und nicht zuletzt mit Hilfe dieser Partei bildete sich das breit aufgestellte Bürgerbündnis K21, benannt nach der verkehrstechnischen Alternative, einem bahntechnisch ertüchtigten Kopfbahnhof mit neuer Trasse von Wendlingen nach Ulm. Immer mehr Menschen unterstützten das Bündnis und mit ihnen zog auch immer mehr Sachverstand ein – mit Architekten, Geologen, Juristen, Werbefachleuten, Journalisten und Denkmalpflegern.
Während sich viele Menschen anfänglich vor allem wegen der sich abzeichnenden Kostenexplosion beunruhigten, sorgten sich andere um die in Europa zweitgrößten Mineralwasservorkommen, wieder andere sahen das »Grüne U« gefährdet, also den von der Innenstadt bis an den Neckar und von dort bis auf den Killesberg sich erstreckenden Park, der mit 280 alten Großbäumen zur Ader gelassen werden soll. Hintergrund ist hier nicht nur das bedrohte schöne Bild eines gewachsenen Gartens mit uralten Bäumen, sondern auch die realistische Befürchtung, dass sich das Kleinklima der deutschen Großstadt mit der schlechtesten Luft spürbar verschlechtert.
Sorgen machten sich auch viele Menschen wegen der Sicherheit und dem Komfort der Zugreisenden, die künftig die schön in die umgebenden Hügel eingebettete Innenstadt nur noch durch insgesamt 66 Kilometer lange Tunnel erreichen, in einer U-Station mit 2 Minuten Wartezeil ein- und aussteigen sollen, um schließlich einer Stadt den Rücken zu kehren, die sie nicht gesehen haben. Stuttgart würde dadurch unsichtbar.
Hinzu kommen geologische Risiken, vor denen ernst zu nehmende Fachleute warnen. Die größte Befürchtung gilt hier dem Anhydrit oder Gipskeuper, einem Gestein, das bei Kontakt mit Wasser sein Volumen um 60 Prozent vergrößert. Dies, so die Befürchtung, könnte die von der Bahn aus Kostengründen verdünnten Tunnelröhren eindrücken und sie dauerhaft und langsam aber sicher immer weiter nach oben heben – mit astronomischen Folgekosten.
Nachdem immer mehr Fakten und Befürchtungen ans Tageslicht kamen, bildeten sich auch Zweifel am demokratischen Meinungsbildungsprozess und der Rechtmäßigkeit. Für reichlich Nahrung sorgten hier beispielsweise gleich zwei Regierungspräsidenten hintereinander, die entgegen ihrer Pflicht als Kontrollbeamte öffentlich Stellung zugunsten des Projekts bezogen und den Gegnern von Stuttgart 21 eine Niederlage nach der anderen zufügten. Das Wort vom Skandal machte die Runde. Erstaunlich, vielleicht sogar erschreckend spät haben sich mit wenigen Ausnahmen die Architekten, Städteplaner und Denkmalfreunde kritisch zu Wort gemeldet. Offizielle Partner im Bürgerbündnis K21 für das Alternativkonzept Kopfbahnhof 21, also ein technisch ertüchtigter Kopfbahnhof mit Neubaustrecke, sind der Verein «Leben in Stuttgart – kein Stuttgart 21«, der Umweltverband BUND, die Grünen, der Verkehrsclub Deutschland VCD, der Fahrgastverband Pro Bahn, die nur in Stuttgart antretende Partei Stuttgart Ökologisch Sozial SÖS und das Architekturforum Stuttgart. Aber auch außerhalb dieses breiten Bündnisses gibt es scharfe Kritiker, darunter Architekten, Verkehrswissenschaftler und Künstler. Den Appell der 2008 gegründeten Arbeitsgemeinschaft Hauptbahnhof Stuttgart haben weltweit rund 600 Architekten, Städteplaner, Ingenieure, Kunst- und Architekurhistoriker und Denkmalpfleger unterzeichnet, wodurch der Protest auch ins Ausland getragen wurde. Die jüngste Erscheinung sind die »Parkschützer«, rund 25000 Menschen, die sich bereit erklärt haben mit unterschiedlichen Mitteln gegen die Zerstörung des Schlossgartens vorzugehen. Wieder andere Menschen schlossen sich im »Stuttgarter Appell« zusammen, der mittlerweile von rund 60000 Personen unterzeichnet wurde und immer wieder mit Großanzeigen einen Baustopp fordert. Nicht zuletzt finden seit mehr als 40 Wochen bei jedem Wetter Montagsdemonstrationen vor dem Nordausgang des Hauptbahnhofs statt, die sich von anfänglich einer Handvoll Teilnehmern zu allwöchentlich mehreren tausend Menschen ausgewachsen haben. Höhepunkte sind die Großdemos mit bis zu rund 60000 Teilnehmern. Neben Reden aller Art – politisch, kulturell, humorvoll – über Musik jeglicher Richtung bis zu Lesungen und nicht zuletzt dem als »chinesische« Wandzeitung mit unterschiedlichsten Kommentaren vollgespickten Bauzaun herrscht eine geradezu unglaubliche Vielfalt an Kreativität, die teilweise das zunehmende Interesse der Auslandsmedien am Protest der Bevölkerung erklärt.
Stuttgart hat durch das Projekt schon jetzt sein Gesicht verändert, allerdings nicht, wie sich das die Befürworter des mittlerweile auf bis zu 20 Milliarden Euro geschätzten Großprojekts vorstellen, sondern in einem anderen, bürgerschaftlichen Sinn. Auf den Demonstrationen treffen alt und jung, arm und reich, Anhänger aller Parteien und Weltanschauungen zusammen und stellen fest, dass sie weit mehr verbindet als trennt. Dies gilt leider nicht für das Zusammenwirken von amtlicher Denkmalpflege und Protestbewegung. In letzterer übernehmen engagierte Architekten, Bau- und Kunsthistoriker sowie pensionierte Denkmalpfleger den Part, den die Öffentlichkeit von der offiziellen Denkmalpflege erwarten würde: die Verteidigung kultureller Traditionen und ihre Manifestation in Architektur und gewachsener städtebaulicher Struktur als Beitrag zu einem Mehr an erfahrbarer Lebensqualität.
WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN
Artikel aus „DIE DENKMALPFLEGE“, Ausgabe 2/2010